“So schreite ich von Fest zu Fest, von Jahrestag zu Jahrestag, von Weinlese zu Weinlese, so wie ich als Kind vom Saal des Rates in den Saal der Ruhe ging, im festgefügten Palast meines Vaters, wo alle Schritte einen Sinn hatten.” (Saint-Exupéry)

 

Der Weg ins Corona-Zombieland

Unsere Welt ist aus den Fugen. Gestern noch waren wir sicher, dass wir gebraucht würden. Und wir alle hatten Pläne.

 

Gestern noch freuten wir uns auf die nächsten Udo Lindenberg-Konzerte, und unsere Kinder freuten sich auf die nächsten Freitags-Demos. Unsere Eltern genossen die Zeit mit ihren Enkeln und begleiteten die Kids auch gerne mal zur Demo, wenn sie nicht gerade ihr Wohnmobil für die nächste Reise aufzurödeln hatten. Und wir wussten, an welchen spanischen Strand es im nächsten Sommer gehen würde: wir würden uns tagsüber unter die Kite-Surfer von Tarifa mischen und abends in eine gut besuchte Bodega in Conil quetschen. Zum Oktoberfest war man pünktlich zurück in Deutschland. Und wem das alles zu hedonistisch klingt: ja, auch das gab es gestern es noch, die Freiheit, politisch inkorrekt zu sein.

 

Das meiste hat sich mit Corona erledigt. Unsere Pläne sind durchkreuzt. Und auf die Gefahr hin, es mit den Liedtexten zu übertreiben: “Life is what happens to you while you're busy making other plans” (John Lennon).

 

Nun ist „die Stunde der Exekutive“ gekommen. Und außer der Exekutive - und einigen mehr oder weniger aggressiven Partyszenen - läuft auch niemand mehr so recht zur Hochform auf. Selbst das neuerdings zu „Alltagshelden“ avancierte Dienstpersonal pfeift auf den Applaus und fühlt sich veräppelt.

 

Eine bleierne Stimmung hat sich über das Land gelegt.  Einkäufe im Supermarkt  mutieren zu unheimlichen Abbildern einer Zombie-Apokalypse: Menschen mit halben Gesichtern, sich ängstlich und ungelenk aus dem Weg gehend, stumm unter sich blickend, flach atmend - bei jedem Husten weiten sich die Pupillen. 

 

Begegnungsverbot

Was verloren ging – noch bevor es um „Existenzen“ ging - waren zuerst die Rituale, die uns zusammenhielten. Die Konzerte, die Gottesdienste, die Umarmungen, das Spiel, das gemeinschaftliche „Abhängen“, die Kneipengänge, die Arbeit. Sie sind verloren oder verstümmelt. Als Entschädigung verspricht man uns das nackte Überleben.

 

Wenn nur nicht in jenen Ritualen unser Leben und sein Sinn geborgen wären! Im routinemäßigen Besuch der Kita oder im einmaligen Elbphilharmonie-Besuch waren unsere Freude, in der Arbeit unser Stolz und unsere Würde eingebunden. „Rituale repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen“ (Byung-Chun Han 2019). Verstehen das Virologen?

 

Die neuen Rituale sind verzweifelte, kontraphobisch und regressiv anmutende Ersatzhandlungen: das unglaubliche Rattenrennen um Clopapier und Nudeln. Die hohlen oder aggressiven „Mini-Events“: Schlauchbootpartys, randalierende Party-Szenen, Geisterspiele, zusammengestückelte Youtube-Konzerte, virtuelle Museumsbesuche. Schließlich der uniformierte Alltag: social distancing, Maskenpflicht und Händewaschen – aber bitte die Beschwörung nicht vergessen: zweimal „Happy Birthday“ singen.

Die neuen Rituale sind Behelfskonstruktionen oder solche der Entzweiung und der Begegnungsverhinderung.

 

Bedingungen der Achtsamkeit

Hilft hier meditieren?

Da hätten wir doch ein schönes altes Ritual, das wir ungehindert weiter führen können. Bewährte Technik der Stressreduktion, alles ist aushaltbar auf der Matte, Leben zwischen 2 Gongschlägen?!

 

Bitte verzeihen Sie den Unterton der Ironie. Ich glaube an Achtsamkeit.

 

Aber wer Achtsamkeit übt, weiß: die Achtsamkeit muss ins Leben transportiert werden, sonst verpufft die Übung. Sie wäre sonst – nach Thich Nhat Hanh –wie Silvester-Bleigießen, eine verklumpte Version des Lebens ohne Bedeutung.

 

Und vor allem: Achtsamkeit ist kein Ego-Projekt. Achtsamkeit funktioniert nur in der mitfühlenden Gemeinschaft mit anderen. Die Jünger des Buddha wurden von ihrem Meister stets auf die Bedeutung des Sangha, der Gemeinschaft, als „drittes Juwel“ der Lehre verwiesen.

 

„Das Wesen einer Gemeinschaft ist Harmonie, und Harmonie entsteht, wenn man sechs Grundlagen der Eintracht folgt: den Raum teilen, das Notwendigste des täglichen Lebens teilen, dieselben Regeln einhalten, nur der Harmonie förderliche Worte gebrauchen, Einsichten und Erfahrungen teilen und die Ansichten der anderen respektieren.“ (Buddha, zitiert n. Bayer & Embshoff 2015).

 

Schon vor Corona waren diese Grundlagen gefährdet in einer hyperindividualisierten, konsumorientierten und digitalisierten Kultur. In der Krise wurde der Gemeinschaft und den sie tragenden Rituale nun der finale Todesstoß versetzt.

 

Der Raum kann nun nicht mehr geteilt werden, Berührungen werden toxisch, es gibt keinen Regelkonsens mehr, selbst Führungskräfte verbreiten Hass und Misstrauen.

 

Und sagen Sie bitte nicht, man habe doch die digitale Welt als Rückzugs- und Kommunikationsort. Die digitale Welt ist eine körperlose Welt. Es kann aus meiner Sicht daher keine digitalen Gemeinschaften geben. Von Ihren 500 facebook-Freunden kommt wahrscheinlich keiner zu Ihrer Beerdigung.

 

Einsamkeit

Wie sieht das in der Praxis aus? In der Klinik tauchten während der Corona-Krise zuerst die Einsamen auf: die 82-jährige Witwe, deren letzte Ressource das 2-wöchentliche, nun geschlossene Damenkränzchen war; der 55-jährige Ex-Alkoholiker, der seine AA-Gruppe nicht mehr besuchen konnte; die Psychosekranke, deren Tagesstätte geschlossen hatte.

 

Gemeinschaft - politisch korrekter und professioneller übrigens „social support“ genannt -  hält gesund. Einsamkeit macht krank.

 

Sozial isolierte Menschen haben über ein gutes Jahrzehnt hinweg ein um 44% erhöhtes kardiovaskuläres Risiko und ein um 47% erhöhtes Sterberisiko[1].  Längst zeichnen sich auch eine Zunahme der Suchterkrankungen[2] und generell der seelischen Erkrankungen[3] ab. Und die Gewalt eskaliert nicht nur auf nächtlichen Straßen, sondern auch zuhause: von einer Zunahme häuslicher Gewalt und von Kindesmisshandlung ist jedenfalls auszugehen[4].

 

Der Schrecken vor der Leere

Neben den Einsamen kamen diejenigen in die Klinik, die immer schon in Krisen stürzten, wenn sie nichts zu tun hatten. Die Arbeitssüchtigen und Emotionsvermeider, die Sonntags- und Ferialneurotiker (Ferenczi), die Sollerfüller und Ablenkungsbedürftigen, deren Welt in der Kurzarbeit vollends zusammengebrochen war, und die die Tage mit den Kindern als brutale Belastung erlebten. Die Depressiven, man könnte auch sagen: die Opfer einer entgrenzten, überwertigen und schädlichen Art zu arbeiten.

 

Ich erzähle gerne von der Zeit vor der Zeit, als Deutschland – mit einem Wort von Nietzsche – zum Arbeitshaus verkommen ist. Ich erzähle von den ursprünglichen Eingeborenen in Neu-Guinea, die nur jeden 2. Tag gearbeitet haben, weil alles andere als schädlich galt. Oder vom abendländischen Mittelalter: man kannte zumindest regional über 100 kirchliche Feiertage im Jahr. So ging man von Fest zu Fest…

 

Natürlich hat man auch im Mittelalter viel gearbeitet. Aber man war sich sicher, dass diese Arbeit „im Schweiße seines Angesichtes“ eher eine Strafe denn eine Gnade war. Dass Arbeit adelt oder gar für den Selbstwert Bedeutung hat, ist eine ziemlich moderne Einstellung.

 

Wer hat’s erfunden? Das neoliberale „System“, das offensichtlich gekommen ist, um ewig zu bleiben. Die Logik dieses Systems ist die der unablässigen Steigerung, der Beschleunigung und Optimierung. Ich persönlich vertraue diesem System nicht sehr.

 

Um in meinem Bereich, der Klinik zu bleiben: im Jahr 2008, 12 Jahre vor der Heiligsprechung des Corona-Pflegepersonals, 2008, als man sich sicher war, dass nur Banken systemrelevant sind, hatte das System bereits 50.000 Pflegestellen in 10 Jahren abgebaut (Maio 2019), es hatte Ärzte verheizt oder in überflüssigen Controlling-Jobs untergebracht, es hatte die Krankenhäuser einer ausufernden Misstrauensbürokratie und einer inhaltsleeren Qualitätsphilosophie ausgesetzt. Nein, ich vertraue diesem System nicht sehr.

 

Geiz ist vielleicht geil, macht aber genauso krank wie die Einsamkeit.

 

Gesund bleiben kann man leider nur, wenn man einen doppelten Boden in dieses System einzieht. Und so rate ich meinen Patienten, sich jenen Steigerungslogiken und Knappheitsbeschwörungen zu entziehen und sich stattdessen selbst davon zu überzeugen, dass Glück und Gesundheit kein Gegenstand des Wettbewerbs sind - und nur in der Kooperation, in der Verbundenheit, in der Versöhnlichkeit gefunden werden kann.

 

Achtsamkeit im Corona-Alltag

Man fängt bei sich selbst an.

Nicht zwingend mit einer Meditationsübung, aber sicher mit einer Pause.

Die „Muße“, die „holy pause“, die Langsamkeit, das Wartenkönnen, das geduldige „Sein“ sollen den inneren Kampf und die ziellose Verausgabung, den ewigen „Doing-Modus“, ersetzen.

 

Das erste ist: Nimm deine Arbeit leicht oder zumindest nicht zu ernst! Versuche nie, der schnellste zu sein und verzichte auf Applaus! Dann hast Du Raum für eine Pause, für deinen Atem und für deinen Körper – und deine Arbeit ist menschengerecht.

 

Das zweite ist: schaffe Raum für Gefühle!

 

Märtens hat es in dieser Rubrik schön auf den Punkt gebracht: die Sterblichkeit wurde wiederbelebt durch Corona. Und Sterben ist nun mal kein Zuckerschlecken, da kann man noch so lange und noch so intensiv drüber nachdenken, es bleibt immer ein Rest Angst – oder viel Angst! Also muss man sich der Angst stellen.

 

Angst lähmt und nur, „wer es … in Wahrheit gelernt, sich zu ängstigen, der wird wie im Tanze schreiten, wenn der Endlichkeit Ängste aufspielen und der Endlichkeit Lehrlinge Verstand und Mut  verlieren“. (Kierkegaard)

 

Nun klingt der Kierkegaardsche Tanz nach einem gediegenen langsamem Walzer, die meisten Menschen geraten angesichts von Angst allerdings eher in eine Art Veitstanz. Wie soll man ruhig bleiben, wenn der festgefügte Palaste zusammenbricht?

 

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“, würde Saint-Exupéry vielleicht mit einem weiteren berühmten Satz antworten.

Also: liebe! Umarme die Angst! Liebe ist radikale Akzeptanz. Akzeptiere die Angst radikal und ohne Wenn und Aber!

Erlaube den Dingen, so zu sein, wie sie sind: nicht perfekt, nicht schön, aber auch nicht katastrophal. Gestehe dir das Gefühl der Angst zu, bleibe dabei, z.B. indem du offen darüber sprichst, ohne gleich ins Schimpfen zu geraten.

Nimm am Abend die Bilder von den überfüllten Intensivstationen Italiens und am Morgen den Anruf deines Freundes, der euphorisch von seinem Home-Office schwärmt („So könnte es für immer bleiben!“). Nimm diesen Mischmasch aus Erschütterung und Erleichterung, Befangenheit und Euphorie, nimm diese ungeheure Komplexität und ätzende Widersprüchlichkeit einer Krise, nimm das alles an. Und atme…

 

Und wenn sich jetzt alles sträubt in dir. Leere Worte? Pures Schmalz? Sag auch zu diesem sich sträubenden Nein einfach Ja.

 

Liebe, und tu ansonsten, was du willst…. (Augustinus).

 

Die Frucht der Achtsamkeit

Und dann spüre es - mitten in der Pause zwischen zwei Atemzügen, in der Millisekunde einer kognitiven Lärmpause, in der Lücke zwischen Dogma und Rebellion, im Aufruhr des Veitstanzes gibt es eine Insel der Ruhe und der Freiheit, wird der langsame Walzer möglich. Es gibt etwas, das uns in der Krise vereint und zusammenhält. Und für das wir dankbar sein können.

 

Ich wusste anfangs nicht, was es ist, aber ich bemerke neuerdings so eine Art Zuneigung zum  Corona-Virus: es scheint mir etwas harmloser und freundlicher geworden zu sein. Die Virologen sprechen von Mutation, und meinen damit das Virus.

 

Ich weiß nicht. Virologen verstehen die Menschen so schlecht. Vielleicht hat sich nicht das Virus verändert, vielleicht habe ich mich verändert?

 

Oder es hat sich so etwas wie eine gegenseitige Rücksichtnahme eingestellt zwischen uns beiden, zwischen uns Grenzgängern des Lebens. Schließlich wollen wir doch beide überleben, das Virus und ich, wir Kristallisationen von Lebensenergie, wir Ansammlungen von Erbmasse.

 

Und nun, da ich gelernt habe, mich zu ängstigen, machen meine Schritte wieder Sinn.

Ich weiß plötzlich, dass es keine Corona-Krise gibt. Es gibt nur eine Krise der Angst. Angst, die uns blockiert, Angst, die uns dumm macht, Angst, mit der man uns dumm hält.

 

Und ich bin mir plötzlich sicher, dass wir nicht verloren sind, schon weil das Virus sich anbietet, unser Lehrer zu sein.

Es lehrt uns ganz einfache Dinge wie den Mut der Verzweiflung. Und das es nur gemeinsam geht. Wir Menschen geschlossen mit den anderen fühlenden Wesen. Gemeinsam! Im Tanz!

 

Es erinnert uns: selbst im Endzeit-Szenario unter der Donnerkuppel hieß es „We don‘t need another hero“ (Uuups, sorry, wieder diese Lieder im Kopf!). Folglich dürfen wir auf Helden der Arbeit ruhig verzichten und die Stunde der Exekutive verstreichen lassen. Wir brauchen den „Saal des Rates“ zurück.

 

Das Virus lehrt uns womöglich, menschlicher zu werden im Umgang mit „Nutztieren“. Es schenkt uns die Freiheit von Bullshit-Jobs und das Ende des Akkords. Es heiligt die Pausen und schenkt uns einen „Saal der Ruhe“.

 

Es lässt uns spüren, wie angewiesen wir sind aufeinander und auf die Natur. So machen unsere Schritte plötzlich wieder Sinn.

 

Und da sind sie nun, die Früchte der Achtsamkeit: Furchtlosigkeit, Verbundenheit und Dankbarkeit. Danke, Virus!

 

Literatur:

  • Bayer, K. & Embshoff, D. (2015). Der Anfang ist gemacht. Band 1: Kultur der Kooperation – die Gruppe. Verein zur Förderung der sozialpolitischen Arbeit.
  • Maio, Giovanni (2019). Werte für die Medizin. Warum Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen. Kösel
  • Han, Byung-Chul (2019). Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Ullstein
  • Saint-Exupéry, Antoine (2009). Die Stadt in der Wüste. Karl Rauch-Verlag

 

[1] Medical Tribune, Jhg. 15, Nr.3, Juni 2020, S. 6

[2] Deutsches Ärzteblatt, Jhg. 117, Heft 25, 16.6.2020, S.1060 ff

[3] Deutsches Ärzteblatt, Jhg. 117, Heft 21, 22.5.2020, S.938 ff

[4] Deutsches Ärzteblatt, Jhg. 117, Heft 18, 1.5.2020, S. 806