Psychodynamisch: Denn Sie wissen nicht, was sie tun

oder

Mein Recht auf Körperverletzung

Die effektivste Form von Völkervernichtung ist historisch betrachtet die Verbreitung von Krankheiten.[i] Andere Kulturen haben nicht nur andere Sitten sondern auch andere Krankheiten und Verletzlichkeiten. Die Eroberer waren so erfolgreich und effektiv, weil sie über diese Waffe verfügten. Innerstaatlich ist dieser Einsatz untersagt.

Die Quarantänepflicht gilt in Deutschland auf Grundlage landesrechtlicher Bestimmungen nach § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 30 Absatz 1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes.

Die Missachtung der Quarantänepflicht kann rechtlich als Körperverletzung oder versuchte Körperverletzung betrachtet werden und mit Haftstrafen von bis zu 5 Jahren oder Geldbußen bis zu 25.000 Euro geahndet werden.

Eine Verurteilung droht auch wegen der Verbreitung menschlicher Krankheiten (Art. 231 StGB), wenn eine „gemeine Gesinnung“ anzunehmen ist. Infiziert jemand eine andere Person vorsätzlich oder nimmt eine Ansteckung in Kauf, bezeichnet man das als „vorsätzliche Körperverletzung“, was mit einer Freiheits- oder Geldstrafe geahndet werden kann. Selbst das versehentliche Infizieren eines anderen Menschen aufgrund mangelnder Sorgfalt oder einfach nachlässiger Unwissenheit um eine eigene Erkrankung, kann noch eine Strafe rechtfertigen.

Was treibt Menschen um, wenn sie andere Menschen gefährden?[ii] Gibt es so etwas wie Freiheitsdrang? Oder verbergen sich unbewusste Aggressionen, der Wunsch zu verletzen oder sogar zu töten, hinter diesem Verhalten? Wenn ich das Risiko eingehe, infiziert zu werden, kann das Ausdruck von Leichtsinnigkeit sein. Dahinter kann sich aber auch eine tiefe Todessehnsucht verbergen. Anders verhält es sich mit dem Wunsch nach Körperverletzung, der auch aus Nachlässigkeit unter Strafe steht. Sich in einen Straßenkampf mit der Polizei zu werfen erfordert erhebliche Energie und die Bereitschaft, andere zu verletzen und eine Bereitschaft verletzt zu werden. Diese Mischung aus Aggression und Masochismus ist Grundlage dieser Bereitschaft. Grundsätzlich ist nur schwer zu unterscheiden, wie die proklamierten Ideen und diese emotionalen Motive verwoben sind.

Die Bedürfnisse der Gemeinschaft, der Erhalt des öffentlichen Gesundheitssystems, stehen denen des Individuum nach Freiheit entgegen. Hier wird eine Relativierung und ein Zurückstutzen der Rechte des Individuums notwendig. Das erfordert eine komplexe Mentalisierung, ein transzendieren der eigenen Person. Diese komplexe Mentalisierungsleistung wird oft nicht vollzogen. Zugegebenermaßen ist die Schwierigkeit auch verständlich. Wie soll man sich in ein Krankenhaus versetzen und dessen Sichtweise nachempfinden? Wie kann ich das Allgemeinwohl als Bedürfnis erspüren?

Einen Mittelweg zwischen der Freiheit des Individuums und der Unterwerfung unter eine Staatsgewalt zu finden, ist noch lange nicht abgeschlossen. Er dauert möglicherweise länger als die Pandemie.

 

Systemisch: Kleine Ursachen, große Wirkungen und die tödliche Pertubation

Nach einer Hochzeitsfeier in Kleve 2020 hatte sich mehr als die Hälfte der Gäste mit dem Virus infiziert. Die mehr als 700 Infektionen der 3600 Menschen des Kreuzfahrtschiffs „Diamond Princess“ mit dem Virus können wohl nach Auswertungen der Genomsequenzen auf einen einzelnen Menschen zurückgeführt werden. Wahrscheinlich erfolgten die Ansteckungen, an denen mehrere Menschen starben, bei gemeinschaftlichen Veranstaltungen in geschlossenen Räumen.

Auch viel mehr Menschen, bei denen im Verlauf der Erkrankung nur milde oder kaum wahrnehmbare Symptome auftraten, tragen häufig Langzeitfolgen davon. Nicht nur in Obduktionen gestorbener Patienten zeigen sich zerstörte Lungen, sondern auch bei überlebenden Menschen finden sich Milchglasmuster genannte weiße Einsprengsel, also pathologische Veränderungen. Diese Folgeschäden reduzieren den körperlichen Allgemeinzustand. Offensichtlich ist das Virus so flexibel, dass es viele unterschiedliche Zellen, möglicherweise alle Zellen des Körpers befallen kann.[iii]   Das Virus ist sicherlich als gefährlich für Menschen zu betrachten. Daran kann nach einem Jahr wohl kaum noch gezweifelt werden.[iv] Das Virus ist klein, aber seine Fähigkeit sich rasend schnell zu vermehren macht seine Wirkung aus.

Das System Mensch wird vom System Virus aufgefressen oder der Mensch frisst letztendlich auch das mutierende Virus, wenn es ihm gelingt tatsächlich Impfstoffe immer wieder anzupassen und effektive Medikamente zur Behandlung Erkrankter zu entwickeln.

Etwas in Vergessenheit geraten ist, dass zwei bedeutende Theoretiker der konstruktivistischen Systemtheorie Biologen waren.

Francesco Varela, der mit Humberto Maturana zu Beginn der 80ziger Jahre das Grundlagenwerk „der Baum der Erkenntnis, die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens“[v] geschrieben hat, stellte fest, das es keine Organismen ohne Umwelt, und keine Umwelt ohne Organismen gibt.[vi] Viren besiedeln die Welt schon länger als es menschliches Leben gibt. Sie sind seit 3,5 Milliarden Jahren allgegenwärtig.[vii] Menschen bewohnen die Erde erst seit 300 Tausend Jahren. Viren sind für Menschen Umwelt.[viii] Spätestens wenn sie in den menschlichen Körper bis in die Zellen vorgedrungen sind, ist der menschliche Organismus für die Viren die relevante Umwelt. „Wie im Falle der zellulären Interaktion bei den Metazellern ist es auch hier offensichtlich, daß aus dem Blickwinkel der inneren Dynamik eines Organismus ein anderer Organismus eine Quelle von Pertubationen darstellt, die von jenen, die aus dem unbelebten Milieu stammen, nicht zu unterscheiden sind.“[ix]

Zu unterscheiden sind allerdings vier unterschiedliche Zustandsveränderungen, die zu unterschiedlichen Auswirkungen führen. Erstens: Zustandsveränderungen, die eine Einheit ohne Veränderung ihrer Organisation ausführt. Zweitens: destruktive Veränderungen, die zur Auflösung, also Tod der Einheit ohne Einwirkung von außen führen. Drittens: Pertubationen, Interaktionen, die Zustandsveränderungen hervorrufen, also etwas Neues schaffen. Viertens: Alle Pertubationen, die zu einer destruktiven Veränderung führen, also letztendlich zum Tod.

Systemtheoretisch betrachtet gelten für beide Systeme die gleichen Spielregeln. Wo bewegt man sich im Bereich der Pertubationen und wo im Bereich der destruktiven Interaktionen? Kann das eigene Immunsystem das Virus neutralisieren oder gelingt es dem Virus den Wirt längere Zeit zu nutzen? Der Tod des Wirts ist letztendlich ein unbeabsichtigter Kollateralschaden für beide Systeme. Gelingt ein gemeinsames Driften gehen beide Systeme als Gewinner hervor. Das Virus hat sich vermehrt und erhalten, der menschliche Wirt hat seine Immunabwehr erweitert und überlebt.

Welchen Sinn das Überleben des autopoietischen Virus und/oder der Menschen mit ihren autopoietischen Zellen langfristig ökologisch macht, wird sich erst später zeigen. Ob die Welt ein autopoietisches System ist und bleibt ist eine große Frage. Bewegen sich alle menschlichen Aktivitäten (Impfen, Lockdown etc.) sowie die Mutationen des Virus im Rahmen operationaler Geschlossenheit wie Maturana und Varela annehmen? Bleibt das grundlegende Axiom der Selbstorganisation, die operationale Geschlossenheit unberührt vom Virus? Auf jeden Fall hat das Virus gezeigt, wie schnell die Welt mit Hilfe menschlicher Technologie, vor allem Flugzeugen und anderen Fortbewegungsmitteln, zu einem vernetzten, geschlossenen System werden kann.

 

Literaturangaben

[i] Oeser, Rudolf (2008) Epidemien: Das grosse Sterben der Indianer. Bod

[ii] Versuchte Körperverletzung: Anklage gegen Quarantänebrecher https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Versuchte-Koerperverletzung-Anklage-gegen-Quarantaenebrecher,corona6292.html 16.2.2021

[iii] Schindel, Malte (2020) Obduktion: Das Virus befällt weit mehr als die Lunge. https://www.gmx.ch/magazine/news/coronavirus/obduktion-coronavirus-befaellt-weit-lunge-34638264, a. 3.1.2021

[iv] Welche Erkenntnis die Obduktion von über 600 Corona-Toten aus Hamburg liefert. https://www.gmx.ch/magazine/news/coronavirus/erkenntnisse-obduktion-600-corona-toten-hamburg-liefert-35552718

[v] Maturana, Humberto R. & Varela, Francisco J. (1987) Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern: Scherz  Triade, Epist, Identität

[vi] Varela, Francisco J. (1979) Principles of Biological Autonomy. North Holland, New York/Oxford: Appleton & Lange

[vii] Mölling, Karin (2020) Viren: Supermacht des Lebens. München H.C. Beck (Neue Auflage)

[viii] Die Frage , ob Viren im engeren Sinne Organismen sind, wird hier nicht behandelt.

[ix] Maturana, Humberto R. & Varela, Francisco J. (1987) a.a.O., S.196