Verhaltensorientiert:

Warum lernen Menschen so unterschiedlich?

Da das Coronavirus nahezu die ganze Bevölkerung betrifft, kann man Änderungen des Verhaltens bei sehr vielen Menschen beobachten oder eben auch wieder nicht, weil Menschen ihre alten Verhaltensweisen beibehalten möchten. Diese neue und ungewohnte Situation nötigt, erfordert oder trägt dazu bei, andere und neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Wie dies von statten geht oder auch nicht, bietet ein aufschlussreiches Anschauungsmaterial für Verhaltensänderungs- und Lernprozesse.

Eine Studie schätzt, dass die Demo am 7.11.2020 in Leipzig  sowie die am 18. November in Berlin von „Querdenkern“ und Coronamaßnahmengegnern für bis zu 21.000 Infektionen ursächlich waren. Ein Hinweis, dass es möglich ist, die Auswirkungen des Beharrens auf individuelle Freiheitsrechte zu quantifizieren.[i]

Das Tragen von Masken zu lernen ist allerdings nicht für jeden Menschen die gleiche Herausforderung. Je nach dem, zu welchem Typ Maskenträger man gehört, müssen unterschiedliche Dinge gelernt werden. So müssen Brillenträger mit dem dichten Nebel zurechtkommen, wenn ihre Brillen beschlagenen. Der hochfrequente Smartphonenutzer hat damit zu kämpfen, dass sein Face ID nicht mehr funktioniert. Er muss also seine Maske absetzen, damit er sein Smartphone nutzen kann. Dieser wiederum ist zu unterscheiden vom Schummler, der wie selbstverständlich die Maske vom Ohr herabbaumeln lässt, um einen Kaffee in einem Pappbecher so langsam zutrinken, dass der Becher fast seine Form verliert.

Daneben sind noch zwei weitere Typen zu unterscheiden, die einen besonderen Umgang mit der Maske pflegen: der Nestler und der Näseler. Während der Nestler ständig mit der Maske kämpft, die kratzt, scheuert oder pikst und deshalb ein andauerndes Neujustieren erfordert, schiebt der Näseler sie nur knapp unter die Nase. Wohlwissend das alle Gesundheitsfachleute eine Schutzfunktion nur durch ein Abdecken von Nase und Mund erfüllt sehen, unterwirft er sich nicht der Norm. Außerdem kann er die Maske jederzeit mit einer kleinen Bewegung wieder richten.

Es ist offensichtlich, dass das Tragen einer Maske nicht für alle Menschen der gleiche Vorgang ist. Nicht das An- und Ablegen der Maske muss gelernt werden, sondern es sind die individuellen Präferenzen, die ein anderes Verhalten notwendig machen. Bei der Handynutzung durch die Maske gestört zu werden, ist ein anderer Fall, als gegen ein Jucken im Gesicht zu kämpfen oder aus einem medizinischen Schutz ein Fashion-Statement zu machen.

Der Gebrauch der Masken offenbart die Bedeutung der Kognitiven Wende in der verhaltensorientierten Theorienentwicklung. [ii] Wie neues Verhalten gelernt wird, hängt von individuellen kognitiven Variablen ab, die man berücksichtigen muss, will man das Verhalten verändern. Da Menschen unterschiedliche Vorstellungen von sich, und damit unterschiedliche Motive haben, ist eine Maske zu tragen wesentlich mehr als nur eine motorische Angelegenheit. Sie muss nicht nur in ein Gesicht passen, sondern in eine Selbstbild integriert werden. Für manche Bürger ist sie ein Form der Unterdrückung und nicht der Rücksichtnahme. Auch die Abstandsregeln können als Freiheitsberaubung gesehen werden. In Holland wurde die nächtliche Ausgangssperre am 9. Februar 2021  wegen ungerechtfertigter Freiheitseinschränkung als ungesetzlich aufgehoben.[iii]

 

Humanistisch: Um dich zu treffen, nehme ich den Tod in Kauf

Kinder ohne menschlichen Kontakt sterben oder entwickeln schwerwiegende Störungen. Menschlicher Kontakt ist lebensnotwendig wie Nahrung, auch wenn ein Verzicht nicht so schnell verheerende Auswirkungen hat.[iv] Schon durch den Versuch von Kaiser Friedrich II wurde dokumentiert, das Kinder ohne menschliche Zuwendung sterben.[v] Wie wichtig Beziehungen für Kinder sind haben Experimente und Studien eindrücklich belegt.[vi] Kinder verhungern, wenn sie nicht mit emotionalen Beziehungen gefüttert werden.

Erwachsene vermissen die Begegnung mit Angehörigen und Freunden. Bei den unterschiedlichen Beschränkungen durch einen Lockdown wird die Reduktion des Infektionsrisikos vor allem mit den Kosten fehlenden Kontakte erkauft. Allerdings gibt es auch Gewinner in dieser Situation. Menschen die Kontakt und körperliche Nähe eher gezwungenermaßen über sich ergehen lassen mussten und jetzt aufatmen, weil sie sich diesen Kontaktritualen nicht mehr unterwerfen müssen. Bei vielen Intellektuellen gehört Körperkontaktvermeidung und nur angedeutete Küsse zum Habitus.[vii]

In Japan ist Distanz eine Form der Höflichkeit.[viii] In Europa lässt sich allerdings feststellen, dass die meisten Menschen durch Körperkontakt Stresshormone reduzieren und Hormone, die mit Glücksgefühlen einhergehen, vermehrt ausschütten.[ix]

Auch in Psychotherapie und Beratung spielt Körperkontakt eine wichtige Rolle, die häufig aus Angst vor sexualisierten Grenzüberschreitungen zu wenig wahrgenommen wird. Allerdings ist dazu eine Wahrnehmungen der Unterschiede, was die körperliche Sensitivität von Menschen angeht, notwendig, um Körperkontakt aufzunehmen oder ihn vorsichtshalber zu unterlassen. Oft wird notwendiger und therapeutisch indizierter Körperkontakt von Beratern und Therapeutinnen aufgrund fehlenden Trainings vorenthalten. Interessant könnte sein, dass Tiere hier[x], wenn man die physiologischen Vorgänge betrachtet, tatsächlich ähnliche physiologische Reaktionsmuster im menschlichen Organismus auslösen.[xi] An den im Blut zirkulierenden Hormonen kann wohl nicht unterschieden werden, ob der Körperkontakt durch eine Katze, einen Hund oder einen Ehepartner hervorgerufen wurde. Aber man kann feststellen, dass beim Telefonieren oder einer Zoomkonferenz bestimmte physiologische Prozesse nicht stattfinden. Was wiederum für einige Menschen von Vorteil ist, für viele aber einen Verlust darstellt.

Die diversen genderspezifische Unterschiede[xii] machen den Einsatz von Berührungen in Beratung und Therapie noch komplizierter. Wenn es darum geht, durch Berührung Entspannung zu fördern oder vergrabene Emotionen zu befreien, müssen weitereichende Entscheidungen gespürt getroffen werden. Videokonferenzen und Telefon sind besser als gar kein Kontakt, aber der Verlust dieser Dimensionen ist ein Verlust.

Zudem kommt noch die olfaktorische Deprivation hinzu. Welche Folgen hat es, wenn man viele Menschen nicht mehr riechen kann?[xiii] „Die Ausdünstung deines Körpers nannte meine Sprache einst `Geist´. Die heutige Sprache nennt sie in ihrer aseptischen Art `Geruch“ schreibt der französische Philosoph Michel Serres.[xiv] Welche Auswirkungen dieser Verlust olfaktorischer Stimulation für das Wohlbefinden hat und welche Rolle Geruchswahrnehmungen bei menschlichen Begegnungen haben, ist in der Bedeutung weitgehend unerforscht.[xv] Sicher ist aber, dass es diesen Verlust gibt. In Zoomkonferenzen riecht man nur den Staub der überhitzten PCs, aber keine Menschen.

Moreno sieht den Mensch als „ein Soziales Atom“.[xvi] Und dieses Atom ist beschädigt. Die humanistische Sicht mit ihrem Fokus auf Beziehung hilft zu verstehen, was hier kompensiert werden muss. Beziehungsverlust hat mehr Dimensionen als auf den ersten Blick ersichtlich.

Wir steigen für den Kontakt, einen Besuch mit Anderen ohne nachzudenken in Autos und gehen dabei das Risiko ein, bei einem Unfall zu sterben. Heute gehen wir für Kontakt mit andern Menschen das Risiko ein, vom Virus infiziert zu werden. Das haben wir bei jeder Grippewelle auch schon mehr oder weniger riskant gemacht. Jetzt ist es aber offensichtlich. Wir spüren den Wert und die Bedeutung unserer Beziehungen intensiver, wenn der Kontakt vielleicht tödlich sein kann. Anders als bei Aids kann es jeden treffen.

 

Fortsetzung ab 19.03.2021

Psychodynamisch: Denn Sie wissen nicht, was sie tun

oder

Mein Recht auf Körperverletzung

Systemisch: Kleine Ursachen, große Wirkungen und die tödliche Pertubation

 

Literaturangaben

[i] https://www.gmx.ch/magazine/news/coronavirus/studie-querdenker-demos-verbreitung-coronavirus-deutlich-verstaerkt-35520788 9.2.2021

 

[ii] Mahoney, Michael J. (1974) Cognition and behavior modification. Cambridge, MA: Ballinger

 

[iii] Ausgangssperre in Niederlanden muss aufgehoben werden https://rp-online.de/panorama/coronavirus/corona-holland-ausgangssperre-muss-aufgehoben-werden-gerichtsurteil_aid-56286187 17.2.2021

 

[iv] Reite, Martin & Field, Tiffany (Eds.)(1985) The psychobiology of attachment and separartion. New York: Academic Press

 

[v] Stürner, Wolfgang (2000) Friedrich II. Teil 2: Der Kaiser 1220–1250. Darmstadt: Primus-Verlag, 449

 

[vi] https://www.noisolation.com/de/research/how-does-social-isolation-affect-a-childs-mental-health-and-development/

 

[vii] Bandle, Rico (2020) Was Küssen mit Intelligenz zu tun hat: Auffallend viele Intellektuelle zeigen sich erfreut, dass wegen Corona Berührungen im Alltag wegfallen… Sonntagszeitung ch., 24. Mai, 17

 

[viii] Coulmas, Florian (2003) Die Kultur Japans: Tradition und Moderne. München: C.H. Beck

 

[ix] Böhme, Rebecca (2020) Human Touch: Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Erkenntnisse aus Medizin und Hirnforschung. München: C:H: Beck

 

[x] Nestmann, Frank & Wesenberg, Sandra (2021) Persönliche Mensch-Tier-Beziehungen in der Corona-19-Pandemie – BIO-PSYCHO-SOZIAL oder doch SOZIO-PSYCHO-BIOLOGISCH? Lehrt uns die Pandemie andere Prioritäten der Wirkungen von Mensch-Tier-Beziehungen?

[xi] Hunter, Mic & Struve, Jim (1998) The ethical use of Touch in Psychotherapie. Thousand Oaks, London: Sage

 

[xii] Stier, D.S. & Hall, J.A. (1984) Gender differences in touch. An empirical and theoretical review. Journal of Personality and Social Psychocology 47 (2), 440-459

 

[xiii] Bartens, Werner (2013) Was Paare zusammenhält: Warum man sich riechen können muss und Sex überschätzt wird. München Knaur

 

[xiv] Serres, Michel (1998) Die fünf Sinne: Eine Philosophie der Gemenge und der Gemische. Frankfurt: Suhrkamp (Les Cinq Sens. Paris: Grasset)

 

[xv] Müller-Grünow, Robert (2018) Die Geheime Macht der Düfte: Warum wir unserem Geruchssinn mehr vertrauen sollten. Hamburg: Edel Books

Noppeney, Claus im Gespräch mit Xymna Engel (2021) Geruch wird zum Alarmsignal. Sinne: Von der Maske, die Gerüche abhält, bis um Verlust der Geruchssinns nach einer Infektion mit Covid-19: Der berner Innivationsforscher Claus Noppeney beobachtet, wie die Pandemie unser Riechen beeinflusst. Der Bund, Samstag, 6. Februar 2021, 36

 

[xvi] Moreno, Jakob Levy (1967) Grundlagen der Soziometrie. Opladen (2.Aufl. orig. 1934)